Brief des SprecherInnenkreises an Kanzlerkandidat Martin Schulz

  1. 9. 2017

Sehr geehrter Herr Schulz,

bei dem „TV-Duell“ mit Frau Merkel am 3. September ist uns folgender Satz von Ihnen aufgefallen:

„Es gibt zum Beispiel junge Palästinenser, Männer, die zu uns kommen, die mit einem tief verwurzelten Antisemitismus erzogen worden sind, denen muss man in klaren Sätzen sagen: ‚In diesem Land hast Du nur dann einen Platz, wenn Du akzeptierst, dass Deutschland ein Land ist, das Israel schützt, dass das unsere Staatsräson ist.‘“

Diesen Satz antworteten Sie auf die Frage, ob Sie besondere Schwierigkeiten darin sehen würden, Muslime in Deutschland zu integrieren. Ihrer Meinung nach würden also Menschen in muslimischen Ländern zum Antisemitismus erzogen, zumindest gäbe es unter Palästinensern einen Zusammenhang zwischen dem islamischen Glauben und antisemitischen Einstellungen.

Tatsache ist jedoch, dass Moslems, Juden und Christen im Orient und Nordafrika bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger friedlich zusammengelebt haben (zumindest gab es nie Judenpogrome wie in Europa) und dass der Antisemitismus nach Kenntnis aller Experten erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Europäer in den Nahen Osten importiert worden ist.

Allerdings gibt es unter Palästinensern eine scharfe Ablehnung der israelischen Politik, die auch die Form des Hasses gegen alle Israelis annehmen kann; dies trifft aber auf muslimische wie christliche Palästinenser zu, von denen es noch einige wenige in den besetzten Gebieten gibt. Und diese Ablehnung ist begründet – durch die anhaltende völkerrechtswidrige Besatzung und Unterdrückung, die täglichen Schikanen und Erniedrigungen, den Raub von Land und Ressourcen, die nächtlichen Razzien und willkürlichen Verhaftungen, die die Palästinenser von klein auf erleiden, wie Sie sehr wohl wissen dürften. Von den so geprägten und vielleicht sogar traumatisierten Palästinensern die Unterwerfung unter die angebliche deutsche Staatsräson zu verlangen, die jede Barbarei Israels mit seinem Sicherheitsinteresse bemäntelt, ist absurd.

Der seit Generationen tief verwurzelte Widerstand der Palästinenser richtet sich gegen die Befürworter dieser völker- und menschenrechtswidrigen Politik Israels und nicht gegen Juden als solche, von denen etliche in Israel, aber vor allem außerhalb Israels diese Politik ebenso verabscheuen; diese Israelkritik mit Antisemitismus gleichzusetzen, zeugt nicht gerade von Einsicht in die politischen Zusammenhänge. Ihr völlig unnötiger Seitenhieb auf die „jungen Palästinenser“ mag gewissen Parteigängern der rechtsradikalen Regierung in Jerusalem, die es auch in Deutschland gibt, gefallen haben und Ihnen deren Stimmen einbringen. Im Hinblick auf den gerade für die deutsche Außenpolitik so wichtigen Nahen Osten jedoch haben Sie sich durch diese Äußerung disqualifiziert.

Der KoPI-SprecherInnenkreis:

Dr. Rüdeger Baron                 Matthias Jochheim                      George Rashmawi

Gisela Siebourg                   Marius Stark                Claus Walischewski