Avrum Burg – 28. August
Avrum Burg war Vorsitzenden der Jewish Agency und der World Zionist Organization, danach Sprecher der Knesset
Von seiner Gründung an verfügte Israel über eine Art politisches „Konto“, das ihm unbegrenzten, unkontrollierten Kredit gewährte: den Holocaust. Unsere verblassende Vergangenheit definierte Israel als Ausnahme von den Regeln, als ein Land, dem erlaubt war, was anderen verwehrt blieb. „Weil wir den Holocaust hatten.“ Die Welt verstand, dass ein Volk, das einst am Rande der Auslöschung stand, nicht nach denselben Maßstäben beurteilt werden konnte wie andere Nationen. Das nutzten wir aus. Manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Aufgrund des Holocausts – unter anderem – wurde der Staat Israel gegründet. Aufgrund dessen verwandelten wir uns von einer verarmten Flüchtlingsgemeinschaft in eine wirtschaftliche, akademische, kulturelle und militärische Macht. Aufgrund dessen wurden wir zum letzten Kolonialstaat der demokratischen Hemisphäre, zum Täter unsäglicher Verbrechen in Gaza. Aufgrund dessen hat die Welt uns bisher nicht gestoppt.
Diese Kreditlinie war nicht einfach nur die Frucht internationaler Empathie. Sie war Teil eines komplexen historischen Deals. Deutschland, das die größte Verantwortung für den Holocaust trug, nahm eine doppelte Mission auf sich: sich selbst zu erlösen und die Juden zu schützen. Israel wurde zum Prüfstein für beides. Solange die Juden als ewige Opfer gesehen wurden, konnte Deutschland sich als ewig verantwortlich definieren – das genaue Gegenteil dessen, was es im Zweiten Weltkrieg gewesen war.
Der große Deal mit Deutschland
Es war ein bequemer Handel für beide Seiten. Israel erhielt Wiedergutmachung, Waffen, Technologie und vor allem endlose Legitimität. Deutschland erhielt im Gegenzug ein „Entlassungszertifikat“: den Beweis, dass es nicht mehr das Dritte Reich war, dass es seine Lektion gelernt hatte und seine Schuld abtrug.
Israel baute seine internationale Identität auf dem Opferstatus auf. Deutschland baute seine neue Identität auf Verantwortung, kombiniert mit Schuldgefühlen. Eine verzerrte Symbiose entstand: Der Jude musste Opfer bleiben, damit der Deutsche erlöst bleiben konnte. Und solange der Deutsche die Verantwortung trug, konnte der israelische Jude das Opfer bleiben, dem alles erlaubt und verziehen war.
Gaza hat die Regeln verändert
Der Krieg in Gaza hat diese Ordnung zerstört. Es gibt keinen glaubwürdigen Weg mehr, Israel heute als verfolgten Staat zu beschreiben. Abgesehen von der fiebrigen deutschen Einbildungskraft und der kultivierten israelischen Blindheit war Israel das seit Jahrzehnten nicht mehr. Es ist eine wohlhabende Nation, militärisch schlagkräftig, mit hochentwickelten Verteidigungs- und Offensivfähigkeiten, einer florierenden Hightech-Wirtschaft und breiten diplomatischen Beziehungen. Nur Deutschlands Gefangenschaft in seiner eigenen Schuld erlaubte es Israel, sich zu verhalten, als stünde es noch immer unter existenzieller Belagerung. Doch nicht mehr lange.
Die Welt sieht jetzt, was Israelis verweigern zu sehen: bombardierte Flüchtlingslager, Kinder, die unter Trümmern begraben sind, Hungersnot, die sich in Gaza ausbreitet, ganze ausgelöschte Stadtviertel, zerstörte Gesundheits- und Bildungssysteme, systematisch getötete Journalisten. Angesichts dieser Realität kann niemand mehr den Mythos vom ewigen Opfer aufrechterhalten. Auschwitz rechtfertigt nicht Rafah. Das Warschauer Ghetto kann das Gesicht des achtjährigen palästinensischen Jungen, der unter israelischen Bomben starb, nicht verbergen. In dem Moment, in dem Israel zum Erzeuger solch massenhaften Leidens wurde, war sein moralisches Guthaben erloschen. Und das zu Recht.
Deutschlands Befreiung
Paradoxerweise ist Israels brutaler Krieg in Gaza auch Deutschlands Befreiungskrieg geworden. Das hässliche, gewalttätige Israel hat Deutschland aus seinem alten Vertrag entlassen. Deutschland darf Juden wie Ben-Gvir, Smotrich und Netanyahu nicht als Opfer betrachten. Es muss sie als gewöhnliche Menschen sehen. Zu mächtig, schuldig, verantwortlich. Keine der historischen Verbrechen Deutschlands wird ausgelöscht oder vergessen. Die Schrecken des Holocausts bleiben. Aber nichts davon darf Deutschland erlauben, eine neue Kategorie von Verbrechen zu unterstützen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von den Kindern seiner einstigen Opfer.
Das wirft eine neue Frage auf: Wenn der neue israelische Jude nicht mehr Opfer, sondern Täter ist – wer ist dann der neue Deutsche? Zum ersten Mal seit 1945 kann Deutschland Juden retten. Nicht vor deutschen Nazis, sondern vor jüdischen Rassisten und dem israelischen Staat selbst.
Israel steht nackt da. Keine historische Versicherungspolice mehr. Keine moralische Immunität mehr. Es kann sich nicht an Berlin, Brüssel oder Washington wenden und im Namen der Vergangenheit ein Auge zudrücken lassen. Von nun an wird es nicht danach beurteilt, was ihm angetan wurde, sondern danach, was es anderen antut.
Die wahre Prüfung
Dies ist die wahre Prüfung, der Israel sich stets verweigert hat. Es klammerte sich an den Opferstatus, selbst als es zur Regionalmacht geworden war. Es baute seine Identität auf dem Slogan „Nie wieder“ – jedoch nur für Juden. Das Ergebnis: Wenn die Welt sieht, wie Palästinenser getötet, vertrieben und ausgehungert werden, akzeptiert sie nicht länger die Ausrede, die Vernichtung entbinde Israel von moralischer Rechenschaft. Für die westliche Welt bedeutet „Nie wieder“: nie wieder für irgendjemanden. Und der Palästinenser in Gaza ist ein Mensch, der Anspruch auf den Schutz von „Nie wieder“ hat.
Der Holocaust wird für immer ein schwarzes Loch in der Menschheitsgeschichte bleiben. Aber die moralische Kreditkarte, die er Israel verschaffte, ist abgelaufen. Von nun an wird Israel gemessen wie jeder andere Staat: an seinen Taten in der Gegenwart.
Dies ist für Israel eine schmerzliche Erkenntnis. Vielleicht die schmerzlichste seit seiner Gründung. Zum ersten Mal wird es um Rechenschaft und moralische Abwägung für seine eigenen Taten und Verfehlungen gebeten. Und doch birgt dieser Moment neue Möglichkeiten. Die Verbrechen der Hamas im Oktober 2023 rechtfertigen nicht, geschweige denn gleichen sie Israels Verbrechen seitdem aus. Es muss immer wieder gesagt werden: Juden haben Deutschland nie angegriffen, und die „Endlösung“ hatte keinerlei Rechtfertigung, keine. Und dennoch: Das Israel nach 2023 muss zu Gazas Deutschland, zu Palästinas Deutschland werden. Nachdem es zerstört hat, muss es wieder aufbauen. Nachdem es verweigert hat, muss es einer ganzen Generation palästinensischen Lebens in Frieden und Hoffnung eine Zukunft sichern. Denn es gibt noch eine weitere Lehre aus „unserem Holocaust“: Nicht nur die Opfer brauchen Heilung und Reparatur. Auch der kriminelle Täter braucht sie. Dieses Mal sind wir Israelis es.
(unautorisierte Übersetzung, Engl. Original)